Lionheart
Fanzine Amiga schreibt: Es gibt viele Dinge, in denen sich Videospieler von damals und heute unterscheiden. Ein wesentlicher Kontrast ist sicherlich, dass man sich bewusst ist, was eine Hardware zu leisten vermag. Wir hatten damals einen Sinn dafür, wann ein Spiel die sehr begrenzte Hardware beeindruckend nutzte und wann nicht. Heute macht sich das in Frameraten und der konstanten Aufrechterhaltung der Auflösung bemerkbar. Was die Technik der aktuellen Hardware wirklich bedeutet, weiß ein Fortnite-Zocker heute kaum noch. Es interessierter auch nicht und wird selten wirklich gewürdigt, was ein Spiel grafisch leistet. Weil ganz klar, die technischen Beschränkungen sind gewissermaßen verschwunden, und Spiele werden in der Regel mit fertigen Engines entwickelt. Die Resultate sind oft beeindruckend, es ist allerdings eine Selbstverständlichkeit geworden.
Unser Amiga hatte viele Spiele, die sicherlich weniger im Bereich der technischen und grafischen Leistung überzeugten. Aber gelegentlich beeindruckten einzelne Werke immer wieder mit grandiosen technischen Tricks, die geradezu Unglaubliches aus der Hardware kitzelten. Wer damals das erste Mal z. B. Shadow oft the Beast sah, staunte Bauklötze. Und auch von Jim Power war man beeindruckt, um nur zwei davon zu nennen.
1993 wurde dann aber alles auf dem Amiga absolut übertroffen, was man je zuvor gesehen hatte. Und rein gar nichts konnte danach dieses Spiel grafisch und vor allem technisch übertreffen.
Lionheart setzte nicht nur Maßstäbe, sondern machte fast das Unmögliche möglich. Aus der Sicht eines Programmierers muss man zwar sagen, dass auch Lionheart keine Wunder vollbringt, trotzdem hat es niemand geschafft, die Hardware so zu überlisten und optimal zu nutzen, wie die Entwickler dieses Spiels das geschafft haben.
Alles fing an, als sich Anfang der 90er ein Österreicher und ein Niederländer zufällig trafen. Der junge Erwin Kloibhofer kam aus schulischen Gründen nach Holland und traf dort irgendwann einmal Henk Nieborg. Man kannte sich mehr oder weniger aus der Demoszene und hatte so die Möglichkeit, sich persönlich gegenüberzutreten. Die Chemie passte, die Interessen und die Begeisterungen waren die gleichen.
Erwin, ein fähiger Programmierer, Henk ein Grafiker, der einen einzigartigen Grafik-Stil mit der Zeit entwickelte. Schnell entschlossen sich beide, ein eigenes Spiel zu erschaffen. Erwin ging wieder zurück nach Österreich, so blieb nur der Kontakt über Briefe und gelegentlichen Telefonate. Reichlich umständlich, aber es funktionierte, gewissermaßen. Heraus kam dabei Ghost Battle. Die Qualität der Grafik war in der Tat sehenswert, noch nicht so ausgereift wie spätere Werke von Henk, aber man erkannte bereits den unverwechselbaren Style. Auch technisch konnte sich das Spiel sehen lassen.
Was aber überhaupt nicht passte, war das Gameplay. Unausgereifte Steuerung und allgemein sehr schlechtes Gamedesign. Ghost Battle ist ein Jump and Run, man steuert den etwas seltsam anmutenden, muskelbepackten Hauptcharakter und erwehrt sich Unmengen von Gegnern, in dem man Steine schmeißt. Steine schmeißen als Hauptwaffe ist mal echt ne Idee. Urrg. Die Wertungen bewegen sich im 50 Prozent-Bereich. Dabei sieht es grafisch wirklich gut aus, man sieht auch bereits eine gewisse Ähnlichkeit mit Lionheart. Dieses Spiel kommt ein wenig wie der buckelige Vorgänger daher, den man lieber im Glockenturm versteckt.
Der Firma Thalion gefiel die Sache allerdings zumindest so gut, dass sie das Spiel der beiden Jungs veröffentlichten. Und nicht nur das, sie bekamen gleich einen Job in der Gütersloher Softwareschmiede. Thalion-Mitbegründer Erik Simon sah offenbar das Potenzial der beiden Jungs, welches er so groß einschätzte, dass er mit ihnen ein wahres Megaprojekt auf die Beine stellen wollte. Dieses Mal wollte er sich allerdings persönlich um das gesamte Gamedesign kümmern, damit so etwas nicht noch einmal passieren konnte, wie bei Ghost Battle.
Erwin und Henk zogen nach Gütersloh, sie bekamen jeweils ein Büro, das keine 8 m² maß, ohne Fenster. Wozu auch? Da die beiden jung, unproblematisch und pleite waren, schliefen sie auch in diesen Büros. Geld für eine Wohnung war nicht vorhanden. Jeder hatte eine am Tage an der Wand lehnende Matratze, die sie in der Nacht mit einem Schlafsack zum Schlafen nutzten, manchmal sicher auch andersherum. Tag abhängig. Geduscht wurde gelegentlich bei Erik privat. So sah das Leben der beiden die nächsten sechs Monate aus. Heute kaum vorstellbar, aber so war das damals. Zumindest hatten sie ausreichend Zeit zum Entwickeln und wenig Ablenkung. Natürlich haben die Drei das Spiel nicht allein erschaffen. Es gab da noch Michael Bittner, der die spektakulären Intros und
Extro-Sequenzen programmierte und zusätzlich für einige Gegner-Taktiken verantwortlich war. Für den epischen Sound war Soundgott Matthias Steinwachs zuständig, von ihm haben wir anschließend ein ausführliches Interview.
Hilfreiche Geister, wie sie genannt wurden, waren auch Matthias Mörstedt, der die Sound-Routinen erledigte sowie Wolfgang Breyha und Reinhardt Franz, ohne die beiden letztgenannten wäre es nicht möglich gewesen, dass dieses Spiel mit nur einem 1MB-Arbeitsspeicher laufen würde. Sogar der Turrican-Erfinder Manfred Trenz kam öfter vorbei und schaute nach dem Rechten. Auch er steuerte ein paar technische Kniffe bei.
Mit dem übrigen Thalion-Team stand man ebenfalls in engem Kontakt. Das Team war sehr familiär, man verbrachte viel Zeit zusammen und diskutierte über alles Mögliche. In der knappen Freizeit verschlang man zusammen Pizza, zockte Import-Games am Megadrive oder Neo Geo.
Spielhallen-Besuche standen ebenfalls auf dem Plan, natürlich nur zum Zweck der Inspiration. Für alle war es eine riesige und aufregende Sache, an diesem Spiel zu arbeiten. Ihnen war gleich zu Beginn bewusst, dass hier etwas Außergewöhnliches entstehen würde.
Auch Thalion Geschäftsführer Willi Carmincke ahnte, dass hier, aus wirtschaftlicher Sicht, ein viel zu großes Projekt angefangen wurde. Warum er dem zustimmte, wusste er später wohl selbst nicht mehr so genau. Aber Thalion war schon immer mit ihren Projekten knapp an der Wirtschaftlichkeit. Bei ihnen standen die Leidenschaft und der Wille im Vordergrund, etwas Besonderes zu schaffen, so auch bei Lionheart. Zumindest hoffte man, die Entwicklungskosten wieder einzuspielen.
Henk und Erwin in ihrem 8m² Büro.
Die Entwicklung begann im November 1991. Henk zeichnete die gesamte Grafik an seinem eigenen Amiga 500, der eine geringe Menge an extra RAM hatte und eine 20 MB Festplatte, mittels Deluxe Paint. Erwin hatte auf einen Amiga 2000 mit 20 MB Festplatte aufgerüstet. Programmiert wurde alles in Assembler. Der komfortable Level Editor wurde dann aber in C geschrieben. Mit dem Editor konnte sich Simon so richtig austoben. Allerdings wurde jeder einzelne Level wieder etwas angepasst. Gerade der Erste ist ein wahres technisches Meisterwerk und unglaublich komplex in der Programmierung. Da gab es einiges an Kopfzerbrechen.
Das Spiel nahm schnell Form an. Auf Messen, an welchen man Lionheart das erste Mal vorstellte, wollten viele nicht glauben, dass hier ein gewöhnlicher Amiga mit OCS Chipsatz die Arbeit erledigte. Man vermutete, dass es hier ein AGA-Spiel wäre. Aber nein, es war ein gewöhnlicher Amiga 500 mit 1 MB Speicher, mehr nicht.
Die Presse überschlug sich, und Lionheart wurde schnell zum hoffnungsvollen Megakracher, der die Spielhalle heimwärts holte und alles bisher Dagewesene übertraf.
Auch Thalion gab sich alles andere als bescheiden, sie waren sich durchaus bewusst, dass Lionheart etwas Besonderes werden würde. Die Entwicklung ging gut voran, bis Henk einmal versehentlich die Festplatte mit fertigen Leveln formatiert hatte, und Erwin pausenlos mit „Rhythm Is a Dancer“ alle in den Wahnsinn trieb. Der Song lief pausenlos und wurde nachgesungen, in wohl nicht so optimaler Qualität.
Trotz der guten Vorschritte konnte das angepeilte Datum, Dezember 1992, nicht eingehalten werden. Die Jungs arbeiteten hart und taten alles, aber es war einfach nicht möglich. Das sah Willi Carmincke anders. Er verlangte, dass Henk und Erwin Weihnachten komplett durcharbeiten sollten. Das war sehr frustrierend und eine persönliche Geringschätzung nach all der harten Arbeit. Dadurch kam der Gedanke auf, sich nach einer anderen Firma umzuschauen, sobald das Spiel fertig ist.
Lionheart wurde nach weiterer harter Arbeit fertiggestellt und erschien am 22.Januar 1992. Die Presse drehte wie erwartet durch, das Spiel bekam Höchstwertungen und wurde mit Auszeichnungen bombardiert. Es war unglaublich, was dort auf dem Amiga 500 lief. Die Grafik, der Sound, unfassbar! Nur, ist Lionheart letztlich wirklich so perfekt? Nicht ganz, aber fast. Legt man die erste der vier Disketten ein, präsentiert sich ein unglaublich mitreißendes und perfekt inszeniertes Intro. Der brachiale orchestrale Sound donnert aus den Boxen, perfekt abgestimmt auf das grafisch grandios dargestellte Optische. Wunderschöne fantasiereiche Landschaften, eine technisch toll umgesetzte 3D-Begehung eines alten Kerkers und das Besteigen eines flugbereiten Drachens. Viele Gründe, begeisternd zu staunen.
Was die Story selbst betrifft, sie ist recht politisch. Kurz gesagt, unser Held, der Katzenmensch Valdyn, wird vom König dazu verdonnert, das gestohlene Löwenherz – die heiligste Reliquie des Katzenvolkes – zurückzuholen. Dummerweise ist bei der Diebesaktion seine Geliebte zu Stein geworden. Es wäre also auch nur von Vorteil, wenn man sie nebenbei auch noch irgendwie retten könnte. Der Aufbruch zum Auftrag läuft aber alles andere als gut. Valdyn wird während seines Fluges mit dem Drachen von einem riesigen Luftschiff angegriffen. Seine Fluggelegenheit wird entführt, so muss er erst mal zu Fuß die Strecke zurücklegen.
An dieser Stelle beginnt das Spiel: Ihr findet euch im Sumpf wieder. Gleich am Anfang stockte sicher jedem der Atem, der diesen Level das erste Mal zu Gesicht bekam. Hier wird grafisch und technisch alles aus der Hardware gesaugt, was irgendwie möglich war, und auch einiges, was man kaum für möglich gehalten hätte. Da wäre das sechsfach unterschiedlich scrollende Dual-Playfield, das im unteren Bereich noch mit einem super sauber scrollenden Zeilenscrolling aufwartet. Man kennt diesen Effekt z. B. von Street Fighter 2 Arcade oder SNES. Hinzu kommt das grandios gepixelte Spielfeld selbst, welches mit einem raffinierten Farbverlauf überdeckt ist, der mehr Farben vorgaukelt. Zusätzlich kommt eine weitere Ebene für Wellen schlagendes Wasser im Vordergrund dazu. Das Ganze läuft alles, ohne zu zuckeln und zu haken, butterweich mit 50 Frames.
WinUAE – Config : A500-1.3
Action, 1992
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